Wein endlich einmal!


13.09.2022 / Claudia Pinkl /

Die alte Eiche ist nach außen ein harter Mensch. Im Inneren ist der Eichenbaum weich, verletzlich und zartbesaitet. Dass es auch diesen „weichen Kern“ gibt, habe ich lange nicht für möglich gehalten.

Ein Vater, der weint?!

Weinen hab ich die alte Eiche als Kind gesehen, als der eigene Vater gestorben ist. Ich erinnere mich noch genau daran: Da bin ich ins Badezimmer gekommen und hab ihn mit dunkelroten Augen gesehen. Die Tränen sind ihm über die Wangen gelaufen, bis der frisch aufgetragene Rasierschaum sie gebremst hat. An weitere Tränen kann ich mich nicht erinnern. Ohh, doch. Als seine Mama gestorben ist. Und ein kurzes Wischen gab es, als Mamas Mutter ging.

Ein Mann weint doch nicht. Ein Indianer (ich entschuldige mich jetzt schon für den Ausdruck) kennt keinen Schmerz. Beiß zam – des geht keinen was an! In der Öffentlichkeit heult man nicht! Sei stark! Mit all solchen Redewendungen und wohl mit noch viel mehr ist die alte Eiche aufgewachsen. Das hat sich eingebrannt. Weinen ist nur was für Warmduscher – das ist auch noch so ein blöder Spruch. In jedem Fall – Papa weint nicht. Also fast nicht. Nur ganz selten. Doch mittlerweile immer öfter.

Das ist gut!

Vor einigen Tagen hat Mama gemeint, es wäre gut, wenn Papa endlich mal weinen würde. Aber das er das eben nicht kann. Nun, das Leben muss sichtlich manchmal besonders heftig um die Ecke kommen, dass es passiert. Dass die Tränendrüsenstaumauer nicht mehr hält und das Wasser ins Tal schießt. Seit Sonntag beginnt der Damm brüchig zu werden. Wohl auch, weil ich „es“ ausgesprochen habe. Weil es sichtbar ist, dass es kein Zurück gibt. Dass Wünsche nicht mehr als Schaum sind.

Als er dann im Krankenhaus zu wischen und zu schnäuzen begonnen hat, hat Mama das mitbekommen. Sie hat gütig gelächelt und gemeint: „Endlich. Das wird ihm gut tun.“ Und mit dem nächsten Satz hat sie hinzugefügt: „Ob ich auch mal darüber weinen kann? Ich habe mich bis jetzt noch nicht beweint.“ Bumm – daraufhin ging bei mir eine Schleuse hoch. „Mama, das übernehme ich gerade für dich“, hab ich unter Tränen vermeldet.

Wir haben vor zwei Tagen noch von ihnen gesprochen…

Da in meinem Kopf ständig die Frage hängt, ob es noch etwas Wichtiges für Mama geben könnte, habe ich heute einen wirklich wichtigen Freund der alten Eiche angerufen. Die weise Trauerweide. Die beiden Bäume verbindet eine jahrelange, tiefe Freundschaft. Aber diese Covid-Zeit hat sich dazwischen geschlichen und irgendwie ist der Kontakt loser geworden als gewollt. Und weil es der großen Schwarzföhre echt nicht mehr gut geht (das habe ich jetzt sehr positiv formuliert), hab ich die weise Trauerweide darüber informieren wollen. Einfach, weil die Trauerweide und die gütige Birke viertellebenslange Begleiter meiner Eltern sind. Und was sagt die weise Trauerweide daraufhin?! „Jöösas! Vor zwei Tagen haben wir noch von ihnen gesprochen. Na, dann komme ich die alte Eiche sofort besuchen. Die muss ich doch unterstützen! Ob es morgen passt?“ Was für eine Frage. Selbstverständlich!

Und genau in diesem Moment, als ich diese wunderbare Zusage von der weisen Trauerweide bekomme, stehe ich mit den beiden Hundemädels vor einem Grasbüschel, das mit viel Phantasie ein Sandherz in der Mitte zeigt. Wenn das kein Zeichen ist, denk ich mir.

Also habe ich gleich zusätzliche Mittagsmenüs für morgen organisiert, weil die weise Trauerweide die Ehefrau namens gütige Birke mitnimmt, wenn Papa besucht wird. Was für eine Aufregung! Und was für eine Freude! Auf allen Seiten.

Gänsehaut und Dammbruch

Als ich Papa am Nachmittag vom morgigen Besuch erzählt habe, ist der Damm endgültig gebrochen. Nein, alle Staudämme sind gebrochen. Die Tränen haben sich den Weg über das Gesicht gesucht – eine Träne nach der anderen. Nebeneinander. Hintereinander. Übereinander. Und zu alldem sind die Haare bei Papa zu Berge gestanden. Ein Garant für Begeisterung. Aufregung. Freude. Bewegt-Sein. Dankbarkeit. Und für ganz viel Menschlichkeit.



Zum vorhierigen Beitrag
Zum nächsten Beitrag