Mit dem Nasenloch die Mücke fangen
Ich sitze bei der großen Schwarzföhre am Bett. Hinter mir der Musikmacher. An der anderen Seite die alte Eiche. Es ist still, weil Mama schläft. Ich streichle ihre Hand. Sie hält sich an der kleinen Schwalbe fest. Da, ein Obstminkerl schwirrt vor Mamas Nase herum. Ich versuche es zu verscheuchen. Dabei stelle ich mir die Frage, ob es nicht Obstmunkerl heißt. Oder vielleicht hat es ja einen völlig anderen Namen. Ob das Tier zur Gattung der Mücken gehört? Oder doch zu den Fliegen? Hmmm – mein Hirn ist overload. Zum Glück muss ich gerade keine Biologievorlesung halten. Also das würde ich in der momentanen Situation nicht schaffen, stelle ich fest.
Zu blöd für alles
Ich versuche das Minifliegtier zu verscheuchen und zu fangen. Blöd. Es gelingt mir nicht. Ich merke, wie ich in uralte Muster zurück rutsche. Erkenne, dass ich mich selbst schlecht rede, weil ich dieses Tier nicht erwische. Spüre, wie sich Wut auf mich und auf das Tierchen in mir breit macht. Im Hals verortet.
Ahhh – puhhh – Luft raus. Ich atme aus. Nein, mich selbst schlecht machen ist kein Plan, denke ich. Und dennoch: Das Vieh fliegt herum und sekkiert Mama. Hmmm. Also doch blöd.
Und jetzt?!
Während der Musikmacher den Eichenbaum heimbringt, bleibe ich weiterhin neben Mama sitzen. Sie ist still. Redet nicht, weil sie müde ist. Ich verstehe. Halte mich zurück. Wüsste momentan eh nicht, was ich sagen soll. Hab das Gefühl alles gesagt zu haben…
Also streiche ich ihren Kopf. Ohne zu sprechen bedanke ich mich bei ihr. zum gefühlt 50igsten Mal. Für mich. Für das gemeinsame Leben, das uns zu denen gemacht hat, die wir jetzt sind.
Doch dann passiert es. Ich erwische mich dabei, dass ich mich beschweren will. Weil sie oft so unglaublich streng mit mir war. Als Kind. Als Teenager. Auch später als erwachsene Frau und Mutter von einem und später von zwei Kindern. Ich merke, dass so etwas wie Anprangern in mir hochkommt. Jössas!!! Ob ich das jetzt darf? Darf ich sie jetzt, in diesen letzten Tagen ihres Lebens anprangern? Ist es „erlaubt“, dass man auch sagen darf, was nicht gut war. Was man als unangenehm, blöd, falsch, lästig, beschi**en und schei*e empfunden hat? Darf man das?
Obstfliege, du nervst!
Da, schon wieder reißt mich die Obstfliege aus meinen Gedanken. Ohhh, nein. Nicht in Richtung Nase meiner Mutter. Nein, Obstfliege, schwirr ab. Weg da. Los, weg vom Kopf! Das alles rufe ich lautlos dem MinkerlMunkerlFlugtier zu. Doch dem Tier ist das völlig egal. Es tanzt herum. Tanzt Mama auf der Nase herum. Ich gebe w.o. und beschließe wieder bewusst ein- und auszuatmen. Dann habe ich die Idee: Wenn ich das Tier schon nicht fangen kann, dann schicke ich ihm Metta. Metta ist eine wunderbare Meditationsübung, die auf mehreren Ebenen wirkt. Metta ist dem Ich, dem Du und dem Wir dienlich. Wenn das Flugtier ein Du ist, vielleicht hilft es dann auch. Einen Versuch ist es wert, denk ich mir.
Metta hilft immer
Ich schicke die Mettawünsche an die Mücke: Mögest du den Ausgang finden. Mögest du deinen Auftrag erfüllen. Mögest du … Zack. In diesem Moment fliegt das Tier in Mamas Nasenloch. Zackbummm – rein ins Nasenloch als wäre es eine Garage. Ich erschrecke. Mama reißt die Augen auf, greift zu ihrer Nase und … traraaaaa … fängt das Vieh mit dem Zeigefinger. Erstaunt und stolz zugleich präsentiert sie mir ihren Fang.
Ich lache auf. Mama, du bist eine Heldin. Nicht nur, dass du durch deine schwere Krankheit eine Familie wieder zusammenfinden hast lassen, du fängst sogar mit dem Nasenloch ein Obstmunkerl. Du bist die Heldin des Tages.
Als Mama wieder schläft, kommt der Rest der MinkerlMunkerlVerwandtschaft. Ich frage mich, ob sie auch den Nasenlochtod wählen wollen. Nun, wie auch immer, denke ich mir und schicke wieder Metta in den Raum. Doch dieses Mal gezielt zu Mama:
Mögest du in Dankbarkeit sein.
Mögest du befriedet sein.
Mögest du Wege finden, um Unklarheiten zu bereinigen.
Mögest du dem Weg folgen, der sich dir offenbart.
Mögest du loslassen können.
Mögest du spüren, wie sehr du geliebt wirst.
Mögest du …