Die Metamorphose

So groß. Bummm – du bist aber groß geworden. Na, so groß! Ich hätte dich nicht erkannt…

Die Größe des Schmetterlings hat ihn beeindruckt. Ihn, den Eichenbaum. Er war baff, da er den Schmetterling, der mit mir zu Besuch gekommen ist, zuletzt als Raupe gesehen. Dass sich die Raupe in einem Kokon verwandelt hatte und dann geschlüpft ist, das haben weder die Eiche noch die große Föhre miterlebt. Plötzlich war der Schmetterling da. In seiner vollen Größe. Und er macht glücklich. Denn der Schmetterling flattert umher und bringt Veränderung mit.

Veränderungen

In den letzten Tagen – ich muss gestehen, ich habe den zeitlichen Überblick verloren – hat sich das Leben der kleinen Schwarzföhre um 360 Grad gedreht. Mit einem Mal ist alles anders. Zack – kein Stein mehr am anderen. Kein Tag mehr so, wie er bis dato war. Keine Nacht mehr, wie sie bis dahin war. Durchschlafen – das kann derzeit nur die alte Eiche. Alle anderen wachen zwischendurch auf. Werden zeitig munter. Viel zeitiger als früher. So zeitig, dass sogar die Hunde irritiert sind.

Der Tag läuft anders ab. Wird anders getaktet. Weil langes Schlafen und Knotzen nicht mal in Urlaubszeiten gelingt, sind die kleine Schwarzföhre, die beiden Hunde und der Musikmacher oft schon um 7:45 zurück vom einstündigen Spaziergang. Der zweite Kaffee tut dann gut. Beim Spaziergang wird über „das Thema“ intensiv geplaudert oder gemeinsam geschwiegen.

Verwandlungen

Es macht was mit uns. Mit uns allen. Es holt uns aus der Reserve. Lässt uns trotz des Schmerzes glücklich blinzelnde Augen haben. Wir alle erleben und durchleben einen Wandel. Einen Wandel, den wohl niemand von uns für möglich gehalten hat.

Beeindruckt bin ich aber auch von der großen Schwarzföhre. Sie nimmt die Situation an. Stellt sich ihr. Sagt, dass die Dinge nun eben mal so sind. Dass wir es uns schön machen sollen. Trotz alledem. Denkt an die alte Eiche und sagt ihr am Telefon mit rauher Stimme, dass sie die Verzweiflung des Eichenbaums versteht. Sie jammert nicht. Kein einziges Mal. Versucht positiv zu denken und liebevolle Sätze von sich zu geben – auch wenn ihr wohl zum Schreien ist. Zum Weinen ist. Sie nimmt ihr Schicksal an. Hadert nicht.

Über den Schmerz reden

Der Eichenbaum gibt offen zugibt, dass er leidet. Dass es ihm das Herz beinahe entzwei reißt. Er sich ein Leben ohne seiner Karin nicht vorstellen kann. Innig hofft, dass sie wieder „zusammen kommt“. Meine Blicke auf solche frommen Wünsche sieht er. Er deutet sie auch richtig, aber er flüchtet sich in die Hoffnung. Ich kann es verstehen – nachvollziehen. Wünsche es mir auch – dennoch bleibe ich klar. Habe ich doch die Diagnose der Ärzte im Ohr…

Als kleine Schwarzföhre sehe ich es als meine Aufgabe, den Schmerz zuzulassen. Mit dem Eichenbaum über den Schmerz zu reden. Platz für den Schmerz, für die Tränen, die Sorgen und Ängste zu schaffen. Es bewusst anzusprechen. Ich sehe es als wichtig an, über den Schmerz zu reden. Ihn angreifbar zu machen, denn den Schmerz kann mal nicht mindern. Man kann nur den Widerstand, gegen das was ist, lindern. Ihn sogar auf Null setzen. Dann ist das Leid nicht mehr so groß. Man muss einfach ein bisschen mathematisches Verständnis haben und die Formel verstehen: Leid=Schmerz x Widerstand

Chapeau!

Mama kann das. Sie kann das Leiden auf Null setzen. So erscheint es jedenfalls. Sie ist nicht im Widerstand. Sie versucht das Beste aus dem Schlamassel zu machen. Versucht, für jeden ein freundliches Wort zu haben. Redet uns gut zu. Organisiert mit müden Augen und einer rauhen Stimme die Zukunft. „Räum es einfach weg. Das brauche ich nicht mehr. Mach es für Papa so einfach wie möglich.“

Sie bereitet ihre Metamorphose vor. Ihre Verwandlung. Und gestaltet mit Vorbildwirkung auch unser aller Leben neu. Das Leben des Spaziergängers, des Schmetterlings, des Musikmachers, der alten Eiche und das Leben der kleinen Schwarzföhre.