Atmen – das Leben holt mich ein
Tochter sein.
Seit mehr als 47 Jahren bin ich Tochter. Manchmal etwas mehr Tochter, manchmal weniger Tochter. Es ist kompliziert. Schwer zu erklären und noch schwerer zu begreifen.
Seit mehr als 47 Jahren ist sie Mutter. Manchmal mehr, und manchmal weniger Mutter. Es ist kompliziert – und vieles ist für mich nicht zu begreifen.
Flachwurzeln
Unsere Mutter-Tochter-Verbindung war kühl. Nüchtern. Ein Kuscheln, Hineinschnurrlen und Reinschmusen kenne ich kaum. Erinnere mich nicht daran. Und wenn es Momente des Anlehnens gab, dann ging es nicht tief. Nein, ich würde es nicht als eine tiefe Löwenzahn-Pfeilwurzel-Mutter-Tochter-Beziehung bezeichnen. Eher als ein Schwarzföhren-Flachwurzel-Sein, das ein von Mauern und Steinen begrenztes Dasein erlaubt.
Flachwurzeln breiten sich aus. Halten so zusammen. Hmmm – irgendwie hat das bei uns nicht geklappt. Irgendwann hat sich die kleine Schwarzföhre nach einem anderen Boden umgesehen – einem Boden, der dem kleinen pinklfrauschen Nadelbaum besseren Halt gibt. Irgendwann gab es keine Verbindung mehr.
Die kleine pinklfrausche Föhre hat sich entfernt. Wurde entfernt. Hat nicht mehr in ihr altes Daheim dürfen und auch nicht mehr wollen. Es war kompliziert. Und es ist immer noch nicht zu begreifen. Nach so vielen Jahren nicht zu verstehen. Kompliziert – das ist das richtige Wort dafür.
Parasiten
Das Leben ist weitergegangen. Die kleine Schwarzföhre, also die Tochter, hat sich auf die Suche nach sich selbst gemacht, zum Teil gefunden, geformt, entwickelt und zwischendurch immer wieder auch verloren. Sie hat sich mit sich selbst, mit dem Boden, der Umgebung, den Umwelteinflüssen auseinandergesetzt und geforscht, was das Zeug hielt. Sie wollte sich von alten Mustern befreien, unterschiedlichen Zugänge verstehen, neue Ansätze in ihr Leben bringen – vielleicht auch davonlaufen. In jedem Fall hat sich in ihr ein neues Denken entwickelt. Sie hat gelernt zu atmen, um Raum zu schaffen und nicht mehr jeder Emotion aufzuschwimmen.
Die große Schwarzföhre, die Mutter, hat in derselben Zeit auch gelebt. Auf ihre Art und Weise. Sie hat bestimmt auch das Beste aus allem gemacht. So wie sie es immer versucht hat. Doch in ihr hat sich ein Parasit niedergelassen. Sich breitgemacht. Ist mit der Zeit gewachsen. Leise, still und (un-)heimlich.
Da die beiden Föhren keine Verbindung mehr hatten, wusste die eine nichts von der anderen.
Verbindung erwünscht?
Ein Spaziergänger, der die beiden Schwarzföhren in ihren unterschiedlichen Wäldern über all die Jahre immer wieder besucht hat, hat vor Kurzem das Wort „Krankenhaus“ fallen lassen. Die kleine Schwarzföhre wusste sofort Bescheid. Sie wusste es nicht nur. Sie spürte es im Augenblick. Parasiten. Parasiten waren dabei, der großen Schwarzföhre ihre Lebenskraft wegzunehmen.
Und mit einem Mal war eine Verbindung da, die jahrelang wie gekappt schien. Plötzlich fingen die Flachwurzeln der kleinen, jüngeren Schwarzföhre an zu leben … sich bewegten sich. Langsam. Vorsichtig. Sie wandten sich und bohrten sich durch den harten Boden. Es schien in den ersten Stunden, dass sich kein Millimeter rührte. Doch die Wurzeln arbeiteten unentwegt. Sie holten alle Kräfte zusammen. Ließen den Säften freien Lauf und nach vielen Jahren der Stagnation liefen Tränen über den Stamm… Die kleine Föhre wusste: Eine neue Verbindung bahnt sich an.
Atmen
Jetzt, am Tag vor dem ersten Treffen seit Jahren, sitzt die kleine Föhre am Esstisch, weint und atmet. Sie versucht ihre Emotionen wahrzunehmen. Versucht sie zu benennen. Versucht sie durch den Körper gleiten zu lassen. Bloß nicht zu verkörpern! Bloß nicht zu halten! Und schon gar nicht jedem Gedanken nachhängen und ihm verfallen. Atmen. Annehmen was ist. Loslassen. Vertrauen, dass es sich fügt.
Hmmm. Habe ich mich wirklich all die Jahre mit Achtsamkeit beschäftigt, um für diesen Moment gerüstet und beherzt zu sein?! Habe ich mich wirklich im Atmen und Loslassen über die vielen Jahre erprobt, um jetzt Wurzeln wachsen zu lassen, damit das Loslassen besser gelingen kann? Habe ich wirklich versucht die Säulen der Achtsamkeit so zu kultivieren, um zumindest der großen Schwarzföhre in ihren letzten Monaten, Wochen oder Tagen zur Seite zu stehen?
Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Eigentlich ist es auch egal. Wichtig ist, dass das Leben einen holt, wenn man gebraucht wird und dass man dann da ist – egal wie kompliziert es war.