Ohhh, ein Specht – so ein A.
Über Spechte, Meisen, Besitzansprüche, Grenzen, Zivilcourage und den Atemjoker
Ich komme am Parkplatz vor meinem Institut an. Klopf, klopf, klopf. Ich hebe meinen Kopf, schaue suchend Richtung Himmel und bleibe in einer Baumkrone hängen. Ahhh, da ist er. Der Klopfklopfmacher. Was für ein hübscher Specht – so ein schöner Kerl. Oder eine Kerlin. Ich erkenne das auf die Ferne nicht so genau. Ein Buntstecht ist es auf jeden Fall.
Klopf, klopf. Ich beobachte ihn und freue mich, dass hier im Au-Center die Welt noch in Ordnung zu sein scheint. Spechte, Meisen. Eichkätzchen. Manchmal ein Marder. Igel. Und die meiste Zeit freundliche Menschen. Ein Grinsen steht im pinklfrau´schen Gesicht. Ja, was macht er/sie (?) denn da? Was wird denn da aus dem Loch geholt, an dem der Specht (ich entscheide mich ab hier dafür, dass der Specht ein ER ist) so heftig klopft? Büscheln von Fasern. Hmmm, komisch aber auch, denk ich mir noch. Da kommt mein unterer Nachbar und wir beobachten mit einem Auge das Treiben des Spechtes und mit dem anderen Auge sind wir in ein „Wie geht es dir?“ vertieft. „Ja, das gibt es doch nicht. Der Specht räumt das Nest aus!! Das muss ein Nest sein!! Ja schau doch! Die Meisen. Schau nur, wie aufgeregt sie da herumflattern und den Specht sogar attackieren! Wolfgang, da muss was geschehen. Wo ist unsere Hilfestellung? Wo ist unser Beitrag? Unsere Zivilcourage?“
Ein Herzschmerz jagt durch meinen Körper
Wir schießen mit Zapfen auf den Specht. Versuchen ihn davonzujagen. Treffer!!! Da nimmt es ein Teil der Meiseneltern mit dem Specht auf. Wow! Mein Herz purzelt vorwärts und rückwärts zugleich. Was für ein Engagement. Würde ich es für meine Kinder auch so machen?! … Was für eine blöde Frage!
In diesem Moment sehe ich etwas Großes, Lebendiges, mit Flaumfedern sich Wehrendes im Schnabel des Spechts. Was für ein Geschrei! Im wahrsten Sinne des Wortes. Alle schreien in diesem Moment. Die Vögel. Das Kleine im Schnabel des Spechtes. Ich. Wolfgang. Und auch die Au-Center1-Mitbewohnerin aus dem ersten Stock.
Das ist blöd! Bäääähhhhh!
Luft. „Ausatmen. Pinklfrau, du musst ausatmen. Dein Herzschmerz ist ok“, höre ich einen Teil in mir sagen. „So ein A.! Was glaubt der eigentlich? Wie kommt der dazu, dass er einer Mama und einem Papa das Kind entreißt? Wieso konnte der „liebe Specht“ nur so böse sein? So, ab jetzt mag Spechte nicht mehr. Blöder Specht. Blöde Natur. Ich beschließe gerade wie ein kleines, trotziges Kind alles blöd zu finden.
Die Achtsamkeit. Den Krieg. Die Grenzen. Das Elternsein. Den Nestbau. Die Empathie. Das Mitgefühl. OMG – es zerreißt mir das Herz. Wie sagen die Jungen das so oft? Ich fühl es! Ja, genau. Ich fühl es. Ich fühl den Schmerz. Uaaaahhhhh! So ein Schei*! Ich schrei es hinaus. Mitten im Au-Center. Und es ist mir egal, ob es andere Menschen hören. Und was die jetzt von mir denken. Ich pack es gerade nicht. Dieses Bild in meinem Kopf von dem Specht, der das Kleine herauszieht und davonfliegt und am anderen Ast einfach totschüttelt und dann … ja, ich glaube einfach frisst.
Ich brauche meinen Atemjoker!!!
Atme, sagt der Pinklmann, als ich ihn daraufhin völlig überdreht anrufe. Nicht mal einen ganzen Satz bringe ich raus. Keine Chance. Ich stammle. Wie eine Dreijährige. Zum Glück kennt das mein Pinklmann von mir und kann meine wirren Gedanken ordnen und versteht den Inhalt des Satzes (wenn es nur ein Satz wäre).
That’s life. That’s nature. Ja. Eh. Aber …
Atme, sagt er schon wieder. Ja. Eh. Das ist wie Krieg… Wie im wahren Menschenleben. Da ist wer, der ist glücklich und gibt sein Bestes und dann kommt wer von außen und meint er besser, anders, klüger … zu wissen. Drückt einem seine Grenzen, seine Wahrheit drauf. Mich schaudert. (Einen Moment lang überlege ich, ob es nicht doch „Mir schaudert“ heißt. Egal. In mir drinnen steht alles Kopf.)
Claudia, beruhige dich. So ist Leben. Aus der Perspektive des Spechtes: Er ist ein Nesträuber. Das gehört zu ihm. Der Specht ist Teil des Ökosystems und er macht das, um zu überleben. In sein Dankbarkeitstagebuch schreibt er am Abend: Wunderbarer Tag – Meisenbaby als Snack ergattert. Kampf gegen die Eltern gewonnen.
Aus Sicht der Meisen: Sie wollen sich vermehren. Nur die Stärksten überleben. Und man/frau hat nie die absolute Sicherheit. Es kann in jedem Moment vorbei sein. Vielleicht schreiben sie darüber auch etwas in ihr Tagebuch (wenn sie echt gut in der Reflexion sind – Hut ab!!) und behalten den Fokus weiterhin und gerade deswegen auf das Leben gerichtet.
Draußen scheint die Sonne
Jetzt sitze ich in meinem Institut. Das Video, das ich einsprechen wollte, werde ich heute nicht aufnehmen. Das würde nichts werden. So gut kenne ich mich. Die Klienten, die ich heute in ihrer Biographiearbeit begleiten werde, ich lasse ich nicht hängen. Die warten sehnsüchtig auf den Termin heute. Aber dann, wenn ich fertig bin, dann fahre ich heim und gehe mit den Hundemädels spazieren. Dann lasse ich Fünf eine gerade Zahl sein. Dann …
Nein. Stopp. Jetzt scheint die Sonne. Ich bin in meinem Institut. Darf hier etwas tun, das ich gerne mache. Habe eine schöne Umgebung. Höre Vöglein zwitschern und habe den Kaffeeduft in meiner Nase. Jetzt, in diesem Moment werde ich ruhiger. Der Atemjoker hat mich gerettet.