Ich gebe dich frei


16.09.2022 / Claudia Pinkl /

Heute sitze ich vor dem Laptop und warte darauf, dass ich geschrieben werde. Warte darauf, dass ich weiß, wie ich es formulieren soll. Heute ist es anders als sonst. In mir ist eine Pause. Es ist Ruhe – tiefe Ruhe eingekehrt. Die Nacht werde ich wohl Wache halten. Die Kerze ist angezündet. Die Räucherstäbchen auch. Nach dem Schreiben des Blogs werde ich den Weg für Mama auflegen und sie in einen Kreis betten – umringt von Menschen, die ihr wichtig waren. Dann werde ich einen zweiten Kreis bauen mit all jenen, die an der anderen Seite der Brücke bereits auf sie warten.

Es geht nur mehr langsam

Als ich Papa heute gegen 15:30 für die Fahrt zu Mama abholen wollte, ist auf dem Weg von mir zu ihm ein Traktor mit Anhänger. 30km/h. Ein Überholen war nicht drin. Also bin ich dahin geschlichen. Tuck-tuck-tuck. Aha, heute geht es sichtlich nur mehr langsam. Dieser Gedanke ist in mir aufgepoppt.

Jössas – wo ist sie nur?

Bei Mama angekommen, musste ich beim Eingang wieder retour, weil Papa seine Maske im Auto liegen hat lassen. Mutig habe ich ihn alleine in das Lebens.Med geschickt. Jetzt wird er Mama wohl finden. Immerhin waren wir jeden Tag da. Zumindest war das mein Wunsch. Als ich einige Minuten später in das Zimmer gekommen bin, war es leer. Mit leer meine ich leer. Keine Mama. Kein Papa. Kein Bett. Nichts. OMG – kurz ist mir das Herz in die Hose gerutscht.

Am Stützpunkt wurde mir mitgeteilt, dass Mama verlegt wurde, weil morgen der Boden geputzt wird. Aha, na dann. Jetzt kommt sie in einen neuen Raum. Wenn das so ist. Scheinbar ist eine gute Zeit um Räume und Welten zu ändern. Also schnell (und diesmal wirklich schnell) ins neue Zimmer – zum Glück war Papa schon da. Zumindest ihn habe ich nicht verloren…

Ich glaube

Mama ist heute wirklich schwach. Schwächer als letzten Samstag. Hmmm – das schaut nicht fein aus. Ich habe Papa neben Mama auf dem Sessel geparkt, ihm einen Polster unten den Arm gelegt, sodass er gut Mamas Hand halten kann. Es war, als ob er heute wirklich gesehen und erkannt hat, wie schlecht es ihr geht. Während die beiden Händchen halten, hat sich Mama unter sichtbarer Anstrengung bemüht, Luft zu bekommen. Irgendwann sagt sie, beinahe entschuldigend: „Ich bin heute sehr anstrengend.“ „Nein, das bist du nicht“, hab ich geantwortet, „es ist für dich anstrengend. Das Leben ist für dich anstrengend.“

Sie schließt die Augen. Nach gefühlt unendlich langer Zeit schaut sie mich an und sagt: „Ich glaube, ich sterbe. Morgen ist es vorbei.“ Ich beobachte sie. Schaue ihr tief in die Augen und nicke. Mehr habe ich nicht gemacht. Bin unaufgeregt geblieben. Ja, ich wünsche es dir, hab ich mir gedacht, weil so, wie es jetzt ist, das ist aus deiner Sicht nicht menschenwürdig. Dabei sind ALLE hier so liebenswert und bemühen sich sehr. Aber ich sehe, dass dein Körper nicht mehr kann. Gib deine Seele frei, Mama!

Gestärkt für den Weg

Mein Blick fällt auf die Schnabelhäferl. Eines mit Wasser. Eines mit Kaffee. In einem weiteren Becher ist irgendwas anderes in einem hellbraunen Farbton. Schnabelhäferl – so weit ist sie also schon. Füttern wollte sie sich niemals lassen. Seit drei Tagen verlängert mein Arm den Löffel. Heute hat sie sich dankbar die Kräutersuppe löffelweise einflößen lassen. Danach hat sie kalten Kaffee getrunken. „Damit du auch munter bleibst, wenn du dich auf die große Reise machst“, hab ich gesagt. Und sogar von der Kardinalschnitte, die ich aus dem Auto geholt habe, hat sie 3 Minilöfferl genascht. Hmmm – das Beste zum Schluss. Sie nickt.

Die letzten Stunden sind von JA-Seufzern und Auweh-Rufen begleitet. Das Herz tut weh – weil das Gehen nicht fein ist. Ich verstehe. Ich schicke ihr Reiki. Bitte die Ahnen um eine gute Aufnahme. Sage ihr, dass ich jederzeit komme, wenn sie will, dass ich dabei bin. Sie muss es mich nur wissen lassen – irgendwie ist das bestimmt möglich. Immerhin sind wir 2 Schwarzföhren mit Wurzeln, die sich wieder gefunden haben.

Sage ihrer Seele, dass wir sie freigeben. Sie, die Seele und sie, die Mama. Dass auch Papa sie freigibt. Er nickt und weint. Hält ihre Hand. Ich zeige Mama noch ein Foto von ihren Enkelkindern, die heute nach London aufgebrochen sind und ein entzückendes Sind-gelandet-Bild geschickt haben. Sie lacht kurz auf.

Bevor wir gehen, kommt eine der liebenswerten Schwestern vorbei. Sie sieht was los ist. Nickt verständnisvoll als ich umreiße, was Mama zu uns gesagt hat. Ja, sie versteht. Verspricht mir, dass sie mich in der Nacht anruft. Wann auch immer. Und sagt dann zu meinem Vater und mir: „Verabschieden Sie sich in aller Ruhe. Wir machen erst dann die anderen Damen im Zimmer fertig.“

Hmmmm – heute vor einem Monat ist sie ins Krankenhaus gekommen. Morgen vor einem Monat habe ich von meinem Sohn, dem Spaziergänger erfahren, dass sie nur mehr palliativ betreut werden kann…



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