Ich habe erkannt


01.09.2022 / Claudia Pinkl /

Mit der alten Eiche die große Schwarzföhre besuchen. In Frieden. Ruhe. Dankbarkeit. In der inneren Aufregung einen komplizierten Weg zum Ziel wählen. Bringen Selbstvorwürfe da etwas? Nein.

Gestern habe ich die alte Eiche abgeholt. Weil wir Mama gemeinsam (!) besuchen wollen. Der Baum steht in Jogginghose und Leiberl vor mir, als ich komme. „Da, jetzt ist er nicht einmal fertig! So was aber auch. Nicht mal ordentlich angezogen hat er sich. Ein Witz… „, hätte ich früher bestimmt gedacht. Gestern habe ich ausgeatmet. Habe ihn angelächelt und gesagt: „Du bist gewaschen und gekämmt. Blitzsauber. Und du riechst gut! Schön. Da wird sich Mama freuen.“

Mit roten Augen schaut er mich an. Ja, umziehen muss er sich noch. Meine Meinung ist gefragt, ob denn das, was er vorbereitet hat, hübsch genug ist, wenn er zu seiner Karin fährt.

Ich halte inne – lächle – atme – und sage: „Das passt perfekt zusammen! Du wirst Mama gefallen.“

Schuhe binden

Die rechte Masche lässt sich nicht so leicht binden. Nach 5 Versuchen darf ich helfen. Ich gehe vor meinem Vater, vor der großen Eiche, in die Knie. Binde ihm offensichtlich die Schuhe. In Wahrheit aber sage ich leise, für ihn sicherlich nicht hörbar: „Danke fürs Leben, Papa. Ich geh vor dir in die Knie. Mache mich klein. Weil du der Große bist. Der Ältere bist. Der, mit einer längeren Vergangenheit. Und mit einer eigenen Gewordenheit. Bitte verzeih, wenn ich mich über dich gestellt habe. Damals, vor vielen Jahren.“ Hörbar muntere ich ihn auf: „Schau, deine Ersatzfinger haben geholfen und es geschafft.“ Er lächelt.

Dann gehen wir das Handy suchen. Es liegt am Tisch. Gut vorbereitet. Doch die Geldbörse will sich nicht finden lassen. Ob er sie eingesteckt hat, so wie früher auch immer? Ja, klar. In der rechten Hosentasche war sie. „Die hab ich gar nicht gespürt“, meint er verwundert. Ich atme aus. Mache Platz. Platz für einen Moment des Bewusstseins.

Wie geht es mir?

Ich frage mich, wie es mir geht. Heute, am Tag 2 mit der alten Eiche. Ich merke, dass ich zufrieden bin. Mit mir. Wie ich mit ihm umgehe. Mit der Situation umgehe. Innerlich klopfe ich mir auf die Schulter. Plötzlich halte ich inne. Bin irritiert. Auf die Schulter klopfen lasse ich immer meine Student*innen, meine Teilnehmer*innen der Ausbildung. Aber ich?! Dass ich mir zwischendurch auf die Schulter klopfe und mir sage, dass ich es gut, so richtig gut gemacht habe – nein, das mache ich selten. Ganz selten. Eigentlich nie. Upppps.

Als wir bei Mama ankommen, geht die Türe nicht auf. So, wie der automatische Wasserspender. Ich gehe ein Stück retour und frage bei einer netten Dame nach, die draußen steht und plaudert. Sie meint, dass man manchmal ein bisserl wackeln muss. Ich marschiere zurück, stelle mich vor die Türe und winke. Siehe da – Sesam öffnet sich. Ich erkenne: Mit Winken geht es leichter im Leben.

Es betrifft ja nicht nun mich

Schau, da ist Mamas Zimmer. Bist du soweit, Papa? Ich lasse ihm Zeit. So wie der Spaziergänger mir Zeit gelassen hat, als ich die große Föhre zum ersten Mal gesehen habe. Puhhhhh, jetzt ist es soweit. Wir öffnen die Türe und sie freuen sich. Ich sehe es genau. Beide strahlen. Die eine trotz müder Augen und der andere trotz dunkelroter Augen. Sie haben sich wieder. Und ich, ich bin mittendrin.

Ich orientiere mich und sehe, dass auch die Dame neben Mama Besuch hat. Hmmm – der Mann erinnert mich an einen lieben Bekannten. Obwohl wir alle in Masken versteckt sind, erkenne ich ihn. Was für ein Hallo! Wir plaudern kurz, tauschen uns über die Gründe des Hierseins aus. Bei ihm ist es die Oma. Bei mir ist es die Mama. Naja, irgendwann geht es nicht mehr alleine, stellen wir fest. Gut, dass es Hilfe gibt.

Danke fürs Helfen!

Das Telefon läutet dieser Tage öfter als sonst. Auch auf WhatsApp und Messenger trudeln Nachrichten intensiver und von unterschiedlichen Menschen ein. Alle fragen nach, wie es mir geht. Wie ich durch die Zeit komme. Und dass meine Blogbeträge berühren. Sie aus der Reserve locken. Zum Nachdenken bringen. Das finde ich gut. Darum teile ich meine Erlebnisse auch. Um zu zeigen, was mit Achtsamkeit machbar ist.

Sicherlich auch, um Mut zu geben. Um das Thema Tod und Sterben zu enttabuisieren. Ja. Es ist aufreibend. Berührend. Macht traurig. Lockt einen in eine Blase. Lässt einen das Leben anders betrachten. Ich will zeigen, was Mensch sein alles ausmacht. Was im Menschsein alles enthalten ist. Dass es nicht immer einfach ist. Aber dass mit Ruhe und aus einem anderen Blickwinkel heraus betrachtet ALLES zu lösen ist. Sogar das Putzen der 3. Zähne, vor denen es einen gruselt.

Die Haltung entscheidet

Eine liebe Freundin hat mir heute in der Früh geschrieben:

Ich freue mich so unbeschreiblich für dich und deine Eltern. Das ist gelebte Achtsamkeit – die auf deine Eltern wirkt. Sie werden durch dich achtsam.

Ja, da ist was dran.

Doch eines möchte ich noch hinzufügen: Es ist gelebte Achtsamkeit, die mich zu der gemacht hat, die ich jetzt bin. Und ich bin durch meine Eltern achtsam geworden. Denn wäre vor vielen Jahren nicht so vieles unachtsam passiert, hätte ich den Weg zur Achtsamkeit vielleicht nicht so bald gefunden.



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